Die Porträtgrafiksammlung Joachim Andreas Sauers

Folgende Worte zieren das Titelblatt einer vormals auf zwei großformatige Klebealben verteilten Sammlung von etwa 1300 Porträtgrafiken:

Sammlung / Aller / zu Franckfurt am Mayn Gebohrnen, / und sich daselbst aufgehaltenen Personen, / Welche in Kupfer gestochen und so viel möglich zu bekommen / gewesen sind; / Nach ihrem Rang als Absterben in Ordnung gebracht, / und mit zweyen Registern versehen, / durch Joachim Andreas Sauer.

Der Frankfurter „Handelsmann“ Joachim Andreas Sauer (1712–1784) hatte diese beachtliche Bildnis-Kollektion vermutlich über einen längeren Zeitraum zusammengetragen und nach selbst festgelegten Kriterien geordnet. Das von ihm gestaltete Titelblatt ist eine Montage aus zwei verschiedenen Grafiken mit Frankfurter Stadtansichten. Die Textkartusche durchfensterte und hinterklebte er, um den zitierten, handgeschriebenen Text unterbringen zu können – das kreativ arrangierte Blatt ist symptomatisch für Sauers Vorgehen als Sammler.

Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt gelangten die beiden Klebealben in die Kunstsammlung der Patrizierfamilie Holzhausen. Ob Sauer beauftragt worden war, die Kollektion zu erstellen, oder ob sie aus seinem Besitz erworben wurde, ist nicht bekannt. Als Teil des Legats, das der letzte Erbe des Frankfurter Zweigs der Patrizierfamilie, Adolph von Holzhausen (1866–1923), verschiedenen städtischen Institutionen vermachte, fanden die Bände zusammen mit Inkunabeln und alten Drucken ihren Weg in die Stadtbibliothek (heute Universitätsbibliothek). Dort wurden sie noch in den 1970er-Jahren aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen aufgelöst und teilten damit das Schicksal zahlreicher anderer druckgrafischer Klebealben, von denen heute nur noch wenige intakt vorhanden sind. Indem man die Blätter aus den Alben heraustrennte, wurden sie teilweise stark beschädigt. Durch die bibliotheksinterne Inventarisierung, bei der das Format der Grafiken ausschlaggebend war, wurde außerdem die historische Ordnung des Sammlers zerstört.

Die ständische Ordnung auf Papier

Das Sammeln und das Ordnen von Bildnissen gingen im 18. Jahrhundert Hand in Hand. Während der Frankfurter Arzt Georg Philipp Lehr seine Sammlung von Porträts berühmter Mediziner und Naturforscher schlichtweg alphabetisch sortierte und in Schubladen und Schränken aufbewahrte, versuchte Sauer zwischen den Buchdeckeln die ständische Ordnung der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts abzubilden. So folgten auf gekrönte Häupter und deutsche Adelige Angehörige des Klerus und des gehobenen Bürgertums sowie verschiedener Berufsgruppen. Das Gros bestand jedoch aus Bildnissen von verdienstvollen Frankfurter Bürgerinnen und Bürgern, vor allem Bürgermeister, Stadtschultheißen, Ratsherren und Schöffen. Unter diesen waren nicht wenige Mitglieder der Familie Holzhausen (auch: „Holtzhausen“) zu finden, wie Johann Christoph Holtzhausen, Johann Georg von Holtzhausen oder Johann Hektor von Holtzhausen. Ans Ende gestellt wurden Porträts von Personen, die auch im realen Leben am Rande der Gesellschaft lebten – es sind unkonventionelle Bildnisse von Verbrechern, skurrilen Zeitgenossen oder anderen „Außenseitern“, wie der Tagelöhner Johannes Lindt, der dem Alkohol frönende Johannes Dietz oder der Priestermörder Franz Laubler.

Ein „Facebook“ des 18. Jahrhunderts

Sauer war nicht nur bemüht, die Bildnisse in der selbst gewählten Ordnung einzukleben, sondern er versah sie, wenn verfügbar, zusätzlich mit biografischen Informationen. Einige seiner handgeschriebenen Notizen haben die Zeit überdauert. Er entnahm sie überwiegend aus Leichenpredigten – Trauerschriften, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in gedruckter Form verbreitet wurden und in der Regel auch eine Beschreibung des Lebenslaufs des Verstorbenen enthielten. So verlieh Sauer seiner Bildniskollektion allmählich die Funktion eines Nachschlagewerks, in dem Informationen zu den Porträtierten bequem und steckbriefartig abgerufen werden konnten.

„Sein H(err) Vatter ist gewesen H(err) Joh(ann) Ado(l)ph von Holtzhausen / die Mutter Veronica Elisabetha Humbrachtin / 1661 auf die Universitæt nach Marburg kommen und / 1664 nach Metz und Sedam von da 1665 nach Paris ünd / dürch gantz Franckreich gereiset ünd / 1666 in der Herbstmeß nach Hauß gekommen / 1667. den 25 9ber [= November] mit anna Maria des H(errn) Schultheiß Philipp. / Wilhelm von Günderodte vid(e) fol(ium) [= siehe Seite] 10 [im Porträtgrafikalbum des Joachim Andreas Sauer] ältesten Fraulein / Tochter verheyradte mit welcher er in daß 27 Jahr lebet / (in denen sie 1694 den 20 Ap(ril) gestorben) und 2 Söhne / und 2 Tochter erzeugte so aber vor ihm alle verstorben / 1689 zu Rath erwahlet worden / 1696 Ihme daß junge Bürgermeister Amt aufgetragen / 1701. in den Schöffen Rath kommen / 1710. 1714 das Altere Bürgermeister Ambt verwaltet / 1716. den 23. April züm Reichsgerichts S[ch]üldheiß er / wahlet worden und / 1721 den 18 April verstorben und den 21 April / in der St. Peters Kirch begraben worden / und hat die Leichen Predig über 91 Psalms 14.15.16. / H(err) Lüd(wig) He(i)nr(ich) Schlosser gehalten so in Folio / gedruckt ist“.

Die posthume Entstehung dieses Bildnisses von Johann Georg von Holtzhausen lässt sich besonders gut nachvollziehen: Es basiert auf einem Pastell von Johann Philipp Furich, der es anschließend in ein Ölgemälde übertrug. Vermutlich hat man das Pastell nach Augsburg übersandt und von Elias Christoph Heiss und Bernhard Vogel ins Medium der Grafik überführen lassen. Das repräsentative Schabkunstblatt zierte die Buchausgabe der Leichenpredigt des Dargestellten und wurde – gewissermaßen als „Deluxe-Version“ – für einen erlesenen Empfängerkreis auch auf Seide gedruckt.

Die Rekonstruktion der Klebealben – eine Sisyphusarbeit

In mühevoller Kleinarbeit ist es gelungen, einen Teil von Sauers Klebealben maßstabsgetreu zu rekonstruieren. Abriss- und Tintenspuren an den Blättern, mit Bleistift gemachte Notizen sowie ein von dem Bibliothekar Arthur Richel erstellter Katalog zu den „Francofurtensien“ der Stadtbibliothek konnten Aufschluss über die frühere Anordnung einiger Bildnisse geben. So wurde es möglich, das historische Erscheinungsbild der Seiten und die Präsentationsform der Blätter in Sauers Bänden Stück für Stück nachzuvollziehen. Wenngleich die Rekonstruktion lückenhaft bleiben muss, konnte hiermit ein entscheidender Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Sammlungspraxis des 18. Jahrhunderts geleistet werden.

Die Rekonstruktion des Klebealbums ist eine sich über mehrere Jahre hinziehende, buchstäbliche Detektivarbeit gewesen, an der eine ganze Reihe von Forscherinnen und Forschern beteiligt waren. Den Anfang machte Susanne Olms, die ehemalige Leiterin der Bibliothek des Kunstgeschichtlichen Instituts der Goethe-Universität. Ihr ist die Entdeckung zu verdanken, dass der 1929 von Arthur Richel publizierte Katalog der Literatur zur Familien- und Personengeschichte der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt im Personenregister auch Sauers Porträtsammlung (im Wortlaut des erhaltenen Titelblatts) aufführt und ihr die Signaturen „Biogr. Ff. Coll. 58“ und „Biogr. Ff. Coll. 59“ zuweist. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich die Sammlung ursprünglich in zwei Klebealben befunden haben muss. Zudem fiel Olms auf, dass im Personenregister bei Richel auch die im Sauer/Holzhausen-Bestand erhaltenen Porträtgrafiken von Personen verzeichnet sind, die Frankfurter waren oder einen engen Frankfurt-Bezug aufweisen. Hier war der jeweiligen Klebebandangabe „Biogr. Ff. Coll. 58 (oder 59)“ eine hochgestellte Zahl als Signatur angefügt, also etwa „Biogr. Ff. Coll. 5877“. Da mehrere Porträtgrafiken unterschiedlicher Personen dieselbe Signatur aufweisen, vermutete Olms, unterstützt von Lena Schömann, seinerzeit studentische Hilfskraft in der Kunstbibliothek, dass es sich bei der hochgestellten Zahl um die Seitenabgabe in einem der beiden damals noch erhaltenen Klebebände handeln müsste.

Eine zweite wichtige Fährte für die Rekonstruktion des ersten Klebebandes lieferten die auf zahlreichen Porträtgrafiken erhaltenen handschriftlichen Bleistiftzahlen. Bringt man die so markierten Blätter in ihre nummerische Ordnung, ergibt sich die von Sauer auf dem Titelblatt postulierte Ordnung „nach Rang und Absterben“, also nach gesellschaftlicher Stellung und Sterbejahr. So führen Bildnisse von Kaisern (als Stadtherren) und ihrer Familienmitglieder die Ordnung an, gefolgt von Porträts von Angehörigen von in Frankfurt ansässigen Adelsgeschlechtern. Es folgt die ständische Gesellschaft Frankfurts, angeführt von den Stadtschultheißen und Bürgermeistern, Ratsherren und Schöffen. Im Anschluss werden Juristen und Theologen, dann Kaufleute und Künstler, schließlich gesellschaftliche Außenseiter gereiht, die durch besondere Umstände bildwürdig geworden waren.

Detailbeobachtungen an einer Reihe von Porträtgrafiken und zugehörigen biographischen Addenda, die Daniel Dudde, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätsbibliothek, zu verdanken sind, brachten dann wichtige neue Hinweise für die Anordnung auf einer Seite oder Doppelseite des verlorenen Klebealbums, dessen Maße dank des erhaltenen Titelblatts und mit Blick auf die größte ehemals enthaltenen Porträtgrafik mit etwa 60 x 45 cm angenommen werden kann (vgl. Dudde in AK Die Welt im Bildnis 2020, S. 54-71). Ausgehend von den sieben im Bestand erhaltenen und bei Richel verzeichneten druckgrafischen Bildnissen des Frankfurter Stadtsyndikus Johann von Fichard konnte Dudde zeigen, dass die genaue Analyse des materiellen Erhaltungszustands der Einzelblätter und der zugehörigen Addenda klare Hinweise auf die ursprüngliche Anordnung im Klebeband liefern kann (Dudde 2020, S. 69f). Dudde ging von einer der wenigen erhaltenen, auf Joachim Andreas Sauer selbst zurückgehenden Bildnis-Montagen aus. Sauer hatte hier auf den unbedruckten Blattrand eines Fichard-Porträts von Martino Rota zwei ausgeschnittene, kleinere Holzschnitt-Bildnisse von unbekannter Hand aufgeklebt. Am linken Blattrand sind deutlich die Rückstände der früheren partiellen Überklebung mit dem Kupferstich-Bildnis Fichards von Robert Boissard zu erkennen (Abb. 1). Letzteres weist auf seiner Rückseite rechts unten Abrissspuren der ornamentalen Einfassung des Stimmer-Holzschnitt-Porträts auf, das hier ursprünglich unterklebt gewesen war. Eine vergleichbar minutiöse Spurensicherung konnte die ursprüngliche Zugehörigkeit des Addendums mit biographischen Angaben zum Fichard-Bildnis von Sartorius nachweisen: Es ist nachträglich oben abgeschnitten worden, wie die einander exakt entsprechenden Schnittkanten, vor allem aber die durchgehende rückseitige Beklebung mit einem Papierstreifen auf Porträt und Addendum belegt (Abb. 2). Auf diese Weise gelangte Dudde zu einer überzeugenden Rekonstruktion der beiden Seiten 76 und 77 im Klebealbum Sauers (Abb. 3 und 4).

Abb. 1

Spuren der Überklebung am Fichard-Porträt von Martino Rota (Portr. Slg Holzhausen 932) durch das Fichard-Bildnis von Robert Boissard (Portr. Slg. Holzhausen 1125)

Abb. 2

Rückseite des Fichard Bildnisses von Johann Christoph Sartorius (Portr. Slg. Holzhausen 305) und des dazugehörigen Addendums mit biografischen Angaben zum Dargestellten

Abb. 3

Rekonstruktion der ersten Klebebandseite mit den Fichard-Porträts nach Dudde 2020

Abb. 4

Rekonstruktion der zweiten Klebebandseite mit den Fichard-Porträts nach Dudde 2020

Was Dudde mit den im Klebeband ursprünglich auf zwei Seiten verteilten Fichard-Porträts erprobt hatte, wandte Lena Schömann in ihrer 2022 abgeschlossenen Bachelor-Arbeit am Kunstgeschichtlichen Institut Frankfurt nun systematisch auf den gesamten ersten Klebeband Sauers an. Sie konnte dadurch nicht nur zeigen, dass die biografischen Addenda überwiegend nicht neben (wie Dudde noch angenommen hatte), sondern meist unter die Porträts geklebt worden waren (wobei man sie nur an der linken Kante anklebte, sodass sie zur Lektüre der Addenda zur Seite geklappt werden konnten). Sie konnte darüber hinaus nachweisen, dass die ursprüngliche Vermutung, die Klebebände seien paginiert gewesen, unzutreffend gewesen war. Nur bei einer Folio-Nummerierung der Blätter mit Verso- und Rectoseiten (also statt S. 1 und 2 fol. 1r und 1v oder statt S. 5 und 6 fol. 3r und 3v) lässt sich der Bestand an Porträtgrafiken und (meist untergeklebten Addenda) unterbringen. Bei der hier präsentierten digitalen Umsetzung der umfänglichen Rekonstruktion wurde Lena Schömann von Kambis Zahedi im Rahmen eines studentischen Praktikums im Städel Museum unterstützt.

Die maßstäblich auf die rekonstruierten Klebebandseiten platzierten Porträtgrafiken werden durch die Namensbeischrift des bzw. der dargestellten Person begleitet, ferner von drei in Klammern gesetzten Zahlen. Die erste nennt die von Richel genannte Seitenzahl im Klebealbum (sofern es sich um eine Person aus Frankfurt oder mit engem Frankfurtbezug handelt). Die zweite Zahl entspricht der Bleistiftbeschriftung der Porträtgrafik, die deren Reihenfolge im Klebeband nach sozialem Rang und Sterbedatum angibt. Die dritte Zahl gibt die heutige Inventarnummer des jeweiligen Blattes in der Porträtsammlung Holzhausen in der Universitätsbibliothek an. Die einzelnen Seiten des rekonstruierten Klebebandes sind mit den ursprünglichen Folioangaben versehen. Ein und dasselbe Folio erscheint immer dann zweimal, wenn es überklebte biografische Addenda gibt: Die erste Ansicht zeigt die Porträts über den Addenda, die zweite Ansicht zeigt die Addenda bei aufgeklappten Porträtgrafiken.