Die Porträtgrafiksammlung Georg Philipp Lehrs

Die Dr. Senckenbergische Stiftung verfügt nicht nur über eine einzigartige Sammlung von Porträtgemälden, sondern auch über einen beachtlichen Bestand von druckgrafischen Bildnissen von Medizinern und Naturforschern. Dieser hat sich zu großen Teilen in der Frankfurter Universitätsbibliothek erhalten.

Lehrs Vermächtnis

Diese in ihrer Art singuläre Kollektion ist dem Frankfurter Arzt und Geburtshelfer Georg Philipp Lehr (1756–1807) zu verdanken. Als zweiter Stiftsarzt an der Dr. Senckenbergischen Stiftung war er neben seiner ärztlichen Tätigkeit für die Bibliothek zuständig, beaufsichtigte den Botanischen Garten, das chemische Labor und die von Johann Christian Senckenberg initiierte Sammlung von Gemäldeporträts, die nach dessen Tod stetig anwuchs. In seiner Freizeit teilte Lehr Senckenbergs Leidenschaft für das Sammeln von Bildnissen, allerdings richtete sich seine Aufmerksamkeit auf das Medium der Druckgrafik. Über die Jahre erreichte seine Kollektion einen Umfang von fast 3000 Blättern, die er sorgfältig in seiner Dienstwohnung auf dem Stiftsgelände in eigens dafür vorgesehenen Schränken verwahrte. Nach seinem Tod vermachte er der Stiftung – ganz nach Senckenbergs Vorbild – neben einem Großteil seines Vermögens und seiner privaten Bibliothek auch seine

ganze Portrait Sammlung von Aertzen, Wundaerzten & c: welche theils im obern grauen Schrank des vordern Zimmers, theils in der hintern Bücher Stube vorfindlich, theils auch in meinem Wohnzimmer aufgehängt sind (…)
Georg Philipp Lehr in seinem Testament (UB Frankfurt, Na 82, 1, fol. 8r.)

Wissenschaftliches Sammeln

Für Lehr war das Sammeln eine wissenschaftliche Tätigkeit. Damit befand er sich unter seinen Zeitgenossen und Kollegen in bester Gesellschaft. Auch andere Ärzte, wie der Leibarzt von König Friedrich II. von Preußen, Johann Carl Wilhelm Moehsen (1722–1795), oder Lehrs Göttinger Lehrer Professor Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804) waren begeisterte Sammler von Bildnissen anderer Mediziner und Naturwissenschaftler. Vor allem Moehsen setzte den Standard für die systematische Erfassung von grafischen Porträts. In seinem 1771 unbebildert erschienenen Verzeichnis einer Sammlung von Bildnissen größtenteils berühmter Ärzte entwickelte er ein System zur Inventarisierung druckgrafischer Bildnisse, die eine Identifizierung auch ohne entsprechende Vergleichsabbildungen möglich machte. So vermerkte er mit den Großbuchstaben „U[nten]“, „O[ben]“ oder „R[und um das Bild]“, wo sich die Bildinschriften befanden, transkribierte jeweils deren Satzanfang , verzeichnete, wenn möglich, den Entwerfer und Stecher des Blatts, das Entstehungsjahr oder die Fundstelle. Dieses System übernahm auch Lehr.

Parallel zu seiner Bildniskollektion legte er einen dreibändigen Catalogus iconum medicorum an. Er folgte Siegmund Jakob Apin (1693–1732), der in seiner 1743 veröffentlichten Anleitung, wie man die Bildnisse berühmter und gelehrter Männer sammeln soll vorgeschlagen hatte, die Porträts der „Medicos“, zu denen auch Anatomen, Chirurgen, Botaniker, (Al-)Chemiker und Hebammen zählten, in alphabetischer Reihenfolge anzuordnen. Lehr dokumentierte hier nicht nur seinen eigenen Bestand, sondern versuchte alle ihm bekannten Porträts von Ärzten und Naturforschern zu verzeichnen. Dafür durchkämmte er Bildnisvitenbücher und Porträtwerke sowie die Bestände anderer Sammler wie Moehsen oder Baldinger. Den Fundort vermerkte er in seinem Katalog jeweils in Klammern mit „M[oehsen]“ oder „Baldinger“. Auf diese Weise erlangte Lehr über die Jahre von fast 5700 Bildnissen Kenntnis. Im Zusammenspiel mit den heute knapp 1500 erhaltenen Porträts ist der Catalogus iconum medicorum ein einzigartiges Zeugnis für die Sammelpraxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Das Zusammentragen von Bildnissen war demnach kein bloßer Zeitvertreib, sondern ein akribisches Dokumentieren von vorhandenem Bildmaterial. Der Stellenwert dieser Tätigkeit darf nicht unterschätzt werden, denn für den Mediziner Lehr ging mit dem Erwerb der Porträts auch der Erwerb von Wissen einher, setzte der Besitz eines Bildnisses doch auch eine Auseinandersetzung mit den Errungenschaften der dargestellten Person voraus.

Ein “Who-is-who” der Naturforschung

Lehrs Kollektion ist in der Tat ein „Pantheon“, bzw. ein illustriertes „Who-is-who“ der Naturwissenschaften. So sind hier zum Beispiel Bildnisse des Nürnberger Botanikers und Stadtphysikus Hieronymus Besler, des Basler Mediziners Caspar Bauhin, der Hebamme der französischen Königin Louise Bourgeois, des dänischen Astronomen Tycho Brahe oder von Lehrs Vorgänger, dem ersten Frankfurter Stiftsarzt Johann Jacob Reichard, versammelt. Neben dem Anspruch auf Vollständigkeit legte Lehr auch großen Wert auf die Qualität der Blätter. Bis heute zeichnen sich die von ihm zusammengetragenen Holzschnitte, Kupferstiche, Radierungen und Schabkunstblätter durch ihren erstaunlich guten Zustand aus und laden zum Vertiefen in die oft aufwändig inszenierten Grafiken ein.

Dieses Material bezog Lehr aus verschiedenen Quellen. Zum einen stammten die Bildnisse meist aus wissenschaftlichen Publikationen der dargestellten Personen, denen sie als Autorenporträt vorangestellt waren. Lehr weigerte sich jedoch Apins Ratschlag zu folgen und die Bildnisse aus Porträtwerken „herauszureißen“. Diese „iconographischen Werke“, wie er sie in seinem Testament nannte, schien er stattdessen intakt gelassen und zusammen mit den losen Blättern verwahrt zu haben. Dennoch verzeichnete er die darin enthaltenen Porträts in seinem dreibändigen Katalog. Zum anderen müssen regelrechte „Tauschbörsen“ existiert haben, bei denen sich Gleichgesinnte untereinander austauschen, sei es mit aus Büchern ausgerissenen Porträtgrafiken oder mit Einzeldrucken, die von den Verlegern gezielt in den Sammlermarkt gegeben worden waren.

Lost and found?

Nicht alle Bildnisse, die Teil von Lehrs Sammlung waren, haben sich erhalten. Im dritten Band seines Catalogus iconum medicorum vermerkte er, dass sein Bestand zwischen 1787 und 1803 auf fast 3000 Blätter angewachsen war. Von den in der Frankfurter Universitätsbibliothek erhaltenen Grafiken scheinen außerdem nicht alle aus Lehrs Besitz zu stammen. Einige müssen später hinzugekommen sein, wie zum Beispiel das lithografische Porträt des Frankfurter Augenarztes Detmar Wilhelm Soemmerring oder die Fotografie des Frankfurter Botanikers Georg Fresenius. Interessant ist, dass unter den Dargestellten auch einige Personen auszumachen sind, die weder medizinisch noch naturwissenschaftlich tätig waren, wie der württembergisch-herzogliche Rat Andreas Burckhard oder der böhmische Schriftsteller Daniel Meisner. Naturgemäß sind diese nicht in Lehrs Katalog verzeichnet. Aber woher kommen diese Blätter?

Es ist bekannt, dass auch Johann Christian Senckenberg neben Gemälden auch Druckgrafiken sammelte. Allerdings war er weniger akribisch als Lehr und scheint in seine Kollektion aufgenommen zu haben, was ihm in Frankfurt verfügbar war. Leider sind sowohl seine Sammlung als auch sein handschriftlich verfasstes Inventar verschollen, allerdings verriet sein Biograf August de Bary, dass sich unter den Grafiken nur „wenig Portraits“ befanden und „unter diesen nur vereinzelt Arztbilder“ aufgeführt waren. Kürzlich ist in der Frankfurter Universitätsbibliothek ein weiteres, bisher völlig undokumentiertes Konvolut aufgetaucht, ein Sammelsurium von Druckgrafiken, Silhouetten und Fotografien aus verschiedenen Jahrhunderten. Darunter befindet sich ein Blatt, das das Porträt der Margaretha Schütz zeigt und mit handschriftlichen Notizen versehen ist, die sich eindeutig als von Senckenbergs eigener Hand stammend nachweisen lassen.

Porträt der Margaretha Schütz, nach 1687, Kupferstich/Radierung, UB Frankfurt, Portr. Slg. Senckenberg 1535

Zumindest für dieses Bildnis kann also sicher angenommen werden, dass es aus der verloren gegangenen Sammlung des Frankfurter Stifters stammt. Darf dies auch für die anderen druckgrafischen Blätter aus diesem Konvolut gelten? In der Tat handelt es sich bei den Dargestellten nicht um Ärzte. Auffallend viele wurden von dem Frankfurter Kupferstecher Sebastian Furck geschaffen. Das trifft interessanterweise auch auf zahlreiche der Bildnisse von Nicht-Medizinern in Lehrs Sammlung zu. Es liegt also der Verdacht nahe, dass ein Teil von Senckenbergs Grafiksammlung im Laufe der Zeit zu Lehrs Kollektion hinzugefügt wurde. Sowohl deren Kompilator als auch die inhaltliche Ausrichtung des Bestands waren im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte in Vergessenheit geraten, sodass es von bibliothekarischer Seite durchaus sinnvoll erschienen sein muss, verschiedene Grafikbestände mit ähnlichem Bildmaterial zusammenzuführen.

Mit Lehrs Porträtgrafiksammlung und seinem Catologus iconum medicorum konnte in der Frankfurter Universitätsbibliothek ein bislang unbekannter Schatz gehoben werden. Dieser Schatz ist – so hat das vorherige Beispiel gezeigt – eine wahre Fundgrube für weitere Themen und Forschungsfragen. In Zukunft werden die Lehr’schen Grafiken sicher zu weiteren Studien einladen. Die digitale Sammlungspräsentation soll dabei als wertvolles Forschungsinstrument dienen.